Bauen im Außenbereich – Ermessen und Beurteilungsspielraum Sachstand Wissenschaftliche Dienste
Gemäß § 35 Abs. 2 BauGB „können“ Vorhaben im Außenbereich, die nicht unter § 35 Abs. 1 BauGB fallen („sonstige Vorhaben“), im Einzelfall zugelassen werden, wenn ihre Ausführung o-der Benutzung „öffentliche Belange nicht beeinträchtigt.“ Dem Wortlaut der Norm („können“) nach hat die Behörde also ein Ermessen, ob sie für ein solches Vorhaben, das öffentliche Belange nicht beeinträchtigt, eine Baugenehmigung erteilt oder nicht: Sie kann es, muss es aber nicht. Die herrschende Meinung geht allerdings davon aus, dass die Behörde entgegen dem Wortlaut gleich-wohl zur Erteilung der Genehmigung verpflichtet ist, wenn das Vorhaben öffentliche Belange nicht beeinträchtigt. Dies wird damit begründet, dass, wenn das Vorhaben öffentliche Belange in keiner Weise beeinträchtigt, es gegen Art. 14 Abs. 1 GG verstoßen würde, die Baugenehmigung zu versagen, bzw. es im Rahmen einer fehlerfreien Ermessensausübung schlicht nicht nachvollzieh-bar begründet werden könnte, weshalb von dem eingeräumten Ermessen zum Nachteil des Eigentümers Gebrauch gemacht wird.1
Voraussetzung für die Erteilung einer Baugenehmigung nach § 35 Abs. 2 BauGB –sei es nun als Vollzug einer behördlichen Pflicht, sei es aufgrund einer Ermessensentscheidung –ist allerdings, dass das Vorhaben „öffentliche Belange nicht beeinträchtigt.“ Beider Prüfung dieser Frage steht der Behörde kein „Ermessen“ oder –da es nicht um die Rechtsfolge, sondern um den Tatbestand der Norm geht –besser gesagt: „Beurteilungsspielraum“ zu. Es handelt sich vielmehr um einen Vorgang der Rechtsanwendung, der gerichtlich uneingeschränkt überprüfbar ist.2
Entsprechendes gilt für die Prüfung des den Begriff „Beeinträchtigung öffentlicher Belange“ präzisierenden § 35 Abs. 3 und 4 BauGB. In Bezug auf die Frage, ob ein Vorhaben „die Entstehung, Verfestigung oder Erweiterung einer Splittersiedlung befürchten lässt“ (§ 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 BauGB), besteht also kein Beurteilungsspielraum der Behörde. Ebenso wenig besteht dieser in Bezug auf die Frage, ob eine Splittersiedlungsbefürchtung ausnahmsweise unerheblich ist, weil in einem begründeten Einzelfall ein landwirtschaftliches Gebäude, das zur Wahrung der Kulturlandschaft erhaltenswert ist, neu errichtet wird, selbst wenn das neue Gebäude anders als das bisherige genutzt werden soll und selbst wenn es zu geringfügigen Erweiterungen und zu Abweichungen vom bisherigen Standort kommt (§35 Abs. 4 Satz 2 und 3 BauGB).3
Steht der Baubehörde bei der Anwendung von § 35 Abs. 2 (ggf. i.V.m. Abs. 3 und 4) BauGB also kein gerichtlich nicht überprüfbarer Beurteilungsspielraum zur Verfügung, so wird der Gemeinde durch § 35 Abs. 6 BauGB allerdings die Möglichkeit eingeräumt, mithilfe einer sog. Außenbereichssatzung die Zulässigkeit von Vorhaben zu erleichtern, die Wohnzwecken oder kleineren Handwerks-und Gewerbebetrieben dienen. Ob die Gemeinde (sprich: der Gemeinderat4) von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, steht in ihrem Ermessen. Allerdings müssen die in § 35 Abs. 6 BauGB geregelten Voraussetzungen vorliegen, was wiederum vollumfänglich gerichtlich nach-prüfbar ist. Insbesondere kommt der Erlass einer Außenbereichssatzung nur „für bebaute Bereiche im Außenbereich in Betracht, die nicht überwiegend landwirtschaftlich geprägt sind und in denen einen Wohnbebauung von einigem Gewicht vorhanden ist“ (§ 36 Abs. 6 Satz 1 BauGB).
Daneben hat die Gemeinde (Gemeinderat) die Möglichkeit, das Vorhaben dem Anwendungsbereich des § 35 BauGB zu entziehen, indem sie einen qualifizierten oder vorhabenbezogenen Bebauungsplan erlässt. Denn damit liegt das Vorhaben nicht mehr im Außenbereich5 und seine Zulässigkeit richtet sich gemäß § 30 Abs. 1 bzw. Abs. 2 BauGB ausschließlich nach dem Bebauungs-plan.6 Das gilt natürlich nur, wenn der Bebauungsplan selbst rechtmäßig ist, also die für seine Aufstellung maßgebenden rechtlichen Vorgaben beachtet wurden.7 Dazu gehört unter anderem das in § 1 Abs. 6 BauGB enthaltene Gebot, die öffentlichen und privaten Belange, insbesondere die in § 1 Abs. 5 BauGB genannten, gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen (§ 1 Abs. 6 BauGB). Auch die Einhaltung dieses Abwägungsgebots unterliegt gerichtlicher Kontrolle. Mit ihm ist regelmäßig jedoch mehr als nur eine planerische Entscheidung vereinbar, so dass insoweit ein sog. planerischer Ermessensbereich der Gemeinde besteht.8***
1 Vgl. Battis/Krautzberger/Löhr/Mitschang/Reidt, 13. Aufl. 2016, BauGB § 35 Rn. 66 m.w.N.
2 Battis/Krautzberger/Löhr/Mitschang/Reidt, 13. Aufl. 2016, BauGB § 35 Rn. 70.
3 Vgl. Battis/Krautzberger/Löhr/Mitschang/Reidt, 13. Aufl. 2016, BauGB § 35 Rn. 166 (volle gerichtliche Kontrolle in Bezugauf das Vorliegen eines „begründeten Einzelfalles“).
4 Die Gemeinde ist in der Regel sowohl für die Erteilung der Baugenehmigung als auch für den Erlass von bau-rechtlichen Satzungen, insbesondere Bebauungsplänen, zuständig. Die Genehmigungserteilung ist landesrecht-lich jedoch dem Bürgermeister (also der ihm unterstehenden Gemeindeverwaltung) zugewiesen, während für den Erlass von Satzungen der Gemeinderat zuständig ist. Vgl. z.B. für Baden-Württemberg § 38 Abs. 1, § 46 Abs.1 Nr. 3, Abs. 2, §47 Abs. 4 Satz 1 der Landesbauordnung, § 44 Abs. 3 Satz 1 der Gemeindeordnung.
5 „Außenbereich“ wird ausschließlich „negativ“ definiert als Gebiet, das wederim Geltungsbereich eines qualifi-zierten oder vorhabenbezogenen Bebauungsplanes liegt (§ 30 BauGB) noch ein „im Zusammenhang bebauter Ortsteil“ (§ 34 BauGB) ist. Er setzt also nicht zwingend eine Lage in der „freien Natur“ voraus (vgl. Bat-tis/Krautzberger/Löhr/Mitschang/Reidt, 13. Aufl. 2016, BauGB § 35 Rn. 2).
6 Vgl. Battis/Krautzberger/Löhr/Mitschang/Reidt, 13. Aufl. 2016, BauGB § 30 Rn. 1, 8, 12.
7 Vgl. Battis/Krautzberger/Löhr/Mitschang/Reidt, 13. Aufl. 2016, BauGB § 30 Rn. 1.
8 Vgl. Battis/Krautzberger/Löhr, 13. Aufl. 2016, BauGB § 1 Rn. 50.